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Der Historiker-Streit geht weiter

Bis zum Ende missmutige Loyalität

Sonntag, 01. September 2019, 09:08 Uhr
Seriöser Journalismus, wonach auch die nnz strebt, hat leuchtende Vorbilder in der angelsächsischen Presse. (Leser von ND und Prawda bitte wegschauen). Alle Nachrichten, die es wert sind, gedruckt zu werden“, lautet das Credo der „New York Times“. Der Verleger Adolph S. Ochs legte 1897 den Maßstab für „unparteiische Berichte“ fest...


Zum hundertjährigen Bestehen der englischen Zeitung „Guardian“ im Jahre 1921 formulierte der große Chefredakteur CP Scott: „Kommentare sind frei, aber Fakten sind heilig.“ Leidenschaftlich trat Scott für die Pressefreiheit ein und verdammte „hässliche und hassenswerte Propaganda“.

Die hehren Grundsätze einer vergangenen Zeit werden heute in Foren des Internets missachtet. Auch in dieser Rubrik werden tagtäglich Beispiele geliefert. Jedem steht es frei, sich mit seiner Meinung zu blamieren, wenn Unsinn und Unvernunft eine ätzende Verbindung eingehen. Sachlichkeit ist für Ereiferer wohl ein Fremdwort.

Manches Talent für Agit-Prop entging freilich der unseligen DDR. Die nnz veröffentlichte am 29. Juli einen Beitrag über den Historiker-Streit über die friedliche Revolution 1989 in der DDR. Aus der Fülle von zeitgeschichtlichen Forschungen seien hier Stellungnahmen nachgetragen. Rainer Eckert, Autor des Buches „SED-Diktatur und Erinnerungsarbeit im vereinten Deutschland“, beharrt darauf: „Es war keine Wende, es war eine Revolution.“

Der Politikwissenschaftler schreibt: „Revolutionen sind immer eine Sache von Minderheiten, die sich mit den ‚Zuständen’, mit Krieg, Unterdrückung, Diktatur oder autoritärer Herrschaft nicht abfinden wollen und können, stehen gegen die Herrschenden auf, die ebenfalls eine Minderheit sind. Aber sie wenden sich auch gegen die Mehrheit ihrer Mitbürger, die entweder zu den Unterstützern der bisherigen Herrschaft zählt oder in missmutiger Loyalität lebt und im Grunde in Ruhe gelassen werden will. So war es bisher nicht nur in Deutschland.“

Eckert erinnert daran: „Den nichts sagenden Begriff der Wende hat der letzte Generalsekretär der Diktatur-Partei SED geprägt, um die eigene Politik zur kommunistischen Herrschaftssicherung allgemein verwendbar zu beschreiben. In der ostdeutschen Diktatur gab es ein langjähriges Wirken oppositioneller Gruppen. Deren Einfluss auf die Masse der Ostdeutschen blieb gering, doch sollte sich das 1988/89 ändern.“ Die Proteste in Berlin und Leipzig seien durch westliche Medien allen sichtbar geworden.

Nach Eckerts Ansicht wurde die Revolution durch drei Faktoren ausgelöst:
  • Die Massenflucht über die geöffnete ungarische Grenze und in die Botschaften der Bundesrepublik in Prag und Warschau
  • Die innere Systemschwäche der Diktatur. Viele Hunderttausende oder gar Millionen hätten ihren Glauben an die „Sache“ verloren
  • Die Gründung oppositioneller Parteien und des „Neuen Forums“ im August/September. Die Mehrheit blieb passiv oder lehnte gar den Aufstand ab.

„Dass die Demonstrationen jedoch weitergingen, war nicht zum geringen Teil Verdienst der Bürgerrechtler. Dazu kam ihre Arbeit an Runden Tisch, die Organisation der Erstürmung der Zwingburgen der Geheimpolizei, programmatische Arbeit und Vorbereitung der ersten freien Volkskammer-Wahlen am 18. März 1990.“

Helmut Fehr, der Politikwissenschaft an mehreren polnischen Hochschulen lehrt, hebt hervor: „Die DDR war kein Sonderfall.“ Er stellt die Ereignisse von 1989 in Zusammenhang mit Protestbewegungen in osteuropäischen Ländern. Die Demonstranten hätten Feindbilder abgebaut und eine konziliante Sprache gewählt. Zu den Losungen zählten „Keine Gewalt, Dialog, Gerechtigkeit und Toleranz... Schlüsselwörter waren Ehrlichkeit und Offenheit“. Diese moralischen Maßstäbe seien „mit der Zerstörung des politischen Lebens durch die marxistisch-leninistische Herrschaft vor 1989 weitgehend verschwunden“.
Manfred Neuber
Autor: psg

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