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Erinnerungen an das Wunder der "Wende"

Der Tag, als die Mauer fiel

Sonnabend, 09. November 2019, 07:00 Uhr
Herbst 1989 vor 30 Jahren – Zeit der Demos und der Kerzen. Zeit des Umbruchs und des Neubeginns. Damals geschah im sozialistischen Teil Deutschlands etwas, das man von der Geschichtsträchtigkeit und zeitlichen Abfolge her weder im Osten noch im Westen jemals für möglich gehalten hätte.

7. Oktober 1989 (Foto: Bundesarchiv) 7. Oktober 1989 (Foto: Bundesarchiv)


Bürger aus allen Schichten besinnen sich ihrer Kraft, überwinden Ängste, Zurückhaltung und Anpassung. Sie gehen auf die Straße und rufen den Mächtigen unmissverständlich zu: WIR SIND DAS VOLK! In diesem nnz-Beitrag soll insbesondere an den 9. November 1989 erinnert werden...

In jenem Herbst `89 überstürzen sich die Ereignisse in der DDR. Auf einem Plenum des Zentralkomitees der SED am 18. Oktober 1989 wird Erich Honecker als Partei- und Staatschef abgesetzt. Sein Nachfolger wird Egon Krenz. Unmittelbar nach seiner Wahl spricht Krenz im Fernsehen zu den Bürgern der DDR. Hier verwendet er in mehreren Passagen erstmals das Wort „Wende“. Die Ansprache geht später als sogenannte Wende-Rede in die Geschichte ein.

Zur größten Protestveranstaltung in Ost-Berlin kommt es am 4. November. Künstler haben dazu aufgerufen, und weit über eine Million Menschen nehmen daran teil. Unter anderen sprechen an diesem denkwürdigen Tag die Schriftstellerin Christa Wolf, der Schriftsteller Stefan Heym, der Pfarrer Dietrich Schorlemmer und der Rechtsanwalt Gregor Gysi zu den Menschen und fordern Demokratie und Menschenrechte ein.

Am 7. November tritt die gesamte DDR-Regierung unter Ministerpräsident Willi Stoph zurück. An diesem Tag haben sich auch wieder ungezählte Menschen (Schätzungen zufolge sind es zwischen Zwanzig- und Dreißigtausend) aus dem gesamten Kreis Nordhausen auf dem August-Bebel-Platz zur Kundgebung eingefunden, die u. a. den Rücktritt der Regierung bejubeln.

Nur einen Tag später folgt geschlossen das Politbüro des ZK der SED, jenes Organ, das das eigentliche Machtzentrum in der DDR gebildet hat. Ein neues Politbüro wird gewählt. Unter anderen gehört Günter Schabowski wieder diesem Gremium an und fungiert zugleich als dessen Pressesprecher. Auf einer tags darauf einberufenen und hinsichtlich der Themen eher belanglosen Pressekonferenz, die sich bereits ihrem Ende nähert, fragt der Journalist Riccardo Ehrman von der italienischen Nachrichtenagentur ANSA nach dem Stand der Ausarbeitung einer neuen Reiseverordnung.

Pressekonferenz mit Schabowski (Foto: DDR-Fernsehen) Pressekonferenz mit Schabowski (Foto: DDR-Fernsehen)
Pressekonferenz mit Günter Schabowski als Grenzöffner

Schabowski scheint auf diese Frage nicht vorbereitetet zu sein. Sichtlich verunsichert greift er in seine Jackentasche, holt einen Zettel heraus und überrascht die anwesenden Vertreter der internationalen Presse – sich noch fragend umsehend - mit folgenden Worten: „… mir ist das hier also mitgeteilt worden, dass eine solche Mitteilung heute schon verbreitet worden ist. Sie müsste eigentlich in ihrem Besitz sein. Nach reiflicher Abwägung haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über bestehende Grenzübergangspunkte auszureisen...“ Und fährt fort: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden. Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.“

Mehrere Journalisten fragen nach, ab wann das denn in Kraft trete. Schabowski wirkt verunsichert, blättert in seinen Papieren und verkündet das Unglaubliche: „Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich.“ Die Journalisten können es kaum fassen, viele verlassen eilig den Saal. Die Nachricht des Jahrhunderts verbreitet sich wie ein Lauffeuer.

Doch einem Bericht des Spartensenders MDR aktuell zufolge ist eigentlich alles anders geplant: Die Bekanntmachung der neuen Reiseregelung ist nämlich mit einem Sperrvermerk versehen, um den DDR-Grenzschützern ausreichend Zeit für erforderliche Vorbereitungen zu geben. Doch diesen Sperrvermerk hat Günter Schabowski schlichtweg übersehen. Die DDR-Nachrichtenagentur ADN (Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst) soll diese Meldung erst am folgen Tag, also am 10. November 1989 um 4.00 Uhr morgens, verbreiten.

Gerhard Lauter, zu dieser Zeit Abteilungsleiter im DDR-Innenministerium, hat gemeinsam mit weiteren Kollegen die Aufgabe erhalten, binnen kurzer Zeit ein neues Reisegesetz zu erarbeiten, nachdem ein bereits erstellter Entwurf in der Öffentlichkeit auf massive Ablehnung gestoßen ist. Der Auftrag dazu ist von DDR-Innenminister Friedrich Dickel gekommen. Der wiederum hat ihn vom SED-Politbüro erhalten.

Doch die verständliche Neugier einiger Journalisten am Ende einer Pressekonferenz und ein unüberlegter Griff eines offensichtlich überforderten Pressesprechers in seine Jackentasche lassen den Gang der Geschichte (wieder einmal) völlig anders verlaufen als ursprünglich geplant. Und so beschert dieser Abend der Welt, insbesondere aber dem deutschen Volk, ein neues Wunder - das Wunder des 9. November.

Reisepass DDR (Foto: Hans Georg Backhaus) Reisepass DDR (Foto: Hans Georg Backhaus)

Der Reisepass des Autors mit dem alles entscheidenden Reisevermerk

Die Mauer wird geöffnet, Schlagbäume gehen auf. Deutsche aus Ost und West begegnen sich in dieser Nacht und an den folgenden Tagen und Wochen und feiern Freudenfeste. Alle Hände voll zu tun haben in der Folge republikweit die Volkspolizei-Kreisämter. Das Nordhäuser VPKA am Kornmarkt (an dieser Stelle steht heute das neue Einkaufszentrum „Echte Nordhäuser Marktpassage“) bleibt da nicht verschont. Den Bürgern wird in ihre Personalausweise ein Stempeleintrag mit dem Vermerk „Halbjahresvisum zur mehrmaligen Ausreise“ gedrückt.

Schlangen bilden sich ebenso vor den Filialen der Staatsbank, warten doch auf jeden Westreisewilligen 15 DM Reisegeld. Noch mehr gibt es im anderen Teil Deutschlands. Jeder DDR-Bürger wird hier mit 100 DM Begrüßungsgeld empfangen. Die bundesdeutschen Behörden haben in Windeseile operative Auszahlstellen eingerichtet. Wichtigste Ziele der Südharzer in den ersten Wochen nach der Grenzöffnung sind die Ortschaften Walkenried, Hohegeiß, Tettenborn sowie die Städte Bad Sachsa, Bad Lauterberg, Duderstadt, Herzberg und Göttingen.

Jubel und Freude, Aufgeschlossenheit und Herzlichkeit überwiegen überall. Vielerorts laden an diesen kalten Novembertagen eingerichtete Tee- und Kaffeestuben zur Begegnung ein. Firmen aus dem Südharzer Raum bauen faktisch über Nacht auf der Westseite – zunächst provisorisch – Straßen und Wege in Richtung Grenze aus.

Maueröffnung (Foto: Bundesarchiv, Heiko Specht) Maueröffnung (Foto: Bundesarchiv, Heiko Specht)
Freude an und auf er Mauer in Berlin

Die Deutsche Reichsbahn bittet die Deutsche Bundesbahn um Züge, denn auf den grenznahen Bahnhöfen – auch auf dem Nordhäuser – wimmelt es von Menschen, die geduldig darauf warten, erstmals gen Westen reisen zu dürfen. Auf Autobahnen und Fernverkehrsstraßen rollen – mitunter nur im Schritttempo – endlose Fahrzeugkolonnen in jene Richtung, die über Jahrzehnte für die Mehrheit der DDR-Bürger versperrt gewesen ist.
Hans-Georg Backhaus
Autor: red

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