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Über 1 000 Menschen versammeln sich friedlich vorm Bad Langensalzaer Rathaus

„Wenn wir den Zug nicht anhalten, fährt er vor die Wand“

Montag, 19. September 2022, 19:45 Uhr
Der Bürgermeister der Rosenstadt hatte gerufen und trotz widriger Witterungsbedingungen füllten gut eintausend seiner Schutzbefohlenen den Neumarkt, um gegen die Energiepolitik der Bundesregierung zu protestieren. Eine Fortsetzung soll es aufgrund des Erfolges in einer Woche geben …

Bürgermeister Matthias Reinz spricht vor eintauschen Demonstranten (Foto: oas) Bürgermeister Matthias Reinz spricht vor eintauschen Demonstranten (Foto: oas)

Entsprechend des Anlasses und kühlen Herbstwetters drängten sich dem Berichterstatter die Worte auf, die Hannes Wader schon vor fünfzig Jahren auf eine noch viel ältere Freiheitsliedmelodie textete:
„Doch nun ist es kalt trotz alledem,
trotz SPD und alledem;
ein schnöder, scharfer Winterwind
durchfröstelt uns trotz alledem.“

Um aufmerksam zu machen auf die immer prekärer werdende Situation der Bürger und der gesamten städtischen Unternehmungen entschloss sich Bad Langensalzas parteiloser Bürgermeister Matthias Reinz vor Wochenfrist eine Protestkundgebung anzumelden, in der er Probleme benennen und an die verantwortlichen Handlungsträger in Berlin appellieren wollte. Es ginge ihm darum ein Zeichen zu setzen, betonte er in seiner heutigen Rede und die Ängste zu formulieren, die sich für alle ersichtlich an Tanksäulen, in Supermärkten, bei den Energiepreisen oder der Entwicklung in der Gastronomie und anderen Gewerben manifestierten.

Tosenden Beifall erntete er, als er in Richtung Bundesregierung ein Umdenken forderte und sagte: „Es ist fünf vor zwölf. Lassen Sie den Zug nicht wissentlich vor die Wand fahren!“ Als Spalter, Nazi, einer der Öl ins Feuer gießt und Schlimmeres sei er seit seinem Aufruf beschimpft worden; doch er wolle sich weder vereinnahmen noch zum Schweigen bringen lassen. „Wir müssen endlich aufhören, alle Kritiker immer gleich in irgendwelche politischen Ecken zu stellen“, sagte Reinz. Auch dafür applaudierten die Anwesenden frenetisch, die teilweise schon seit halb fünf im strömenden Regen auf dem Platz vor dem Rathaus gewartet hatten. Wie es sich das Stadtoberhaupt gewünscht hatte, waren aber weder Fahnen noch Parteiplakate zu sehen, dafür vereinzelte Transparente, die sich auf den Inhalt der Versammlung bezogen. In einer bewundernswerten Geduld und Friedfertigkeit standen Junge neben Alten, Familien mit mehreren Generation waren aus der Stadt und den Ortsteilen gekommen, aber auch viele Autos mit Gothaer Nummernschild parkten im Stadtzentrum.

Von den Ministern in Berlin forderte Reinz endlich Lösungen statt warmer Worte ein und erläuterte anhand einiger Beispiele, was der Kurstadt droht, wenn die derzeitige Entwicklung auf dem Energiesektor nicht gestoppt wird. Die freiwilligen Aufgaben der Kommune stürben als erstes, die Kulturzuschüsse, die Sportunterstützung, die Feste wie das Brunnen- oder das Mittelalterstadtfest. Dann kämen die Pflichtaufgaben an die Reihe, die Investitionen in Projekte, die Sanierungen von Straßen und Gebäuden und schließlich die Arbeitsplatzvernichtung in den städtischen Betrieben und damit die Existenzgefährdung ganzer Familien.

Dabei ärgert es den Bürgermeister, dass Bad Langensalza schon ganz viel grüne Energie produziert und ins Netz speist, aber weitere richtungsweisende Projekte mit der Verwendung von Wasserstoff-Technologie von der rot-rot-grünen Landesregierung nicht genehmigt bekommt. Als Reinz das viel beachtete Habeck-Zitat von der Nicht-Insolvenz bei Einstellung der Produktion anbrachte, ertönte ein gellendes Pfeifkonzert auf dem Neumarkt. Herr Habeck sollte sich vielleicht doch nicht persönlich nach Bad Langensalza auf den Weg machen, um seine Ideen hier zu erläutern, ganz offenbar ist er bei der sonst so gastfreundlichen Bevölkerung nicht willkommen.

Bürgermeister Reinz sieht die soziale Marktwirtschaft insgesamt in Gefahr und den Wettbewerb an sich, wenn es keine Firmen mehr gibt, weil sie nach der durch die Misswirtschaft der Bundesregierung verursachten kurzzeitigen Produktionsunterbrechung doch Pleite gegangen seien. Seine Forderungen sind deshalb ganz klar: AKWs am Netz lassen und wieder ans Netz nehmen und sofort die Gaslieferungen aus Nordstream 1 und 2 wieder aufnehmen. Amerikanisches Fracking-Gas könne keine Alternative sein, rief er unter dem Jubel der Demonstranten, und berechtigte Sanktionen ob des russischen Angriffskriegs dürften nicht so ausgestaltet sein, dass sie die eigene Bevölkerung härter träfe als Putins Regime.

rappelvoller Neumarkt heute nachmittag trotz schlechter Wetters (Foto: oas) rappelvoller Neumarkt heute nachmittag trotz schlechter Wetters (Foto: oas)

Die Gegenwart, so sein abschließender Gedanke, schaffe die Voraussetzungen für die Zukunft, und die sähe nicht rosig aus, wenn es kein Umdenken in Berlin gäbe. Viele seiner Kollegen in anderen Thüringer Städten sehen die Situation genau so wie er, aber sie trauten sich nicht aus ihrer parteipolitischen Deckung. Deshalb danke er allen, die heute gekommen seien.

Als zweiter Redner sprach der Gastronom Gordon Keiling zu den Kundgebungsteilnehmern. Er betreibt mehrere Einrichtungen in verschiedenen Orten und verwunderte sich, dass er „als kleiner Gastronom hier oben“ stehe und nicht die Vertreter großer Wirtschaftsbetriebe, die alle akute, existenzbedrohende Probleme durch Energie- und Spritpreise hätten. Er selbst habe die Angst abgelegt, als Querdenker oder Verschwörungstheoretiker zu gelten, nur weil er die falsche Politik dieser Bundesregierung anprangere. Von einstmals 4 000 Euro auf 14 000 Euro im Monat seien allein seine Stromkosten gestiegen. Das könne er nicht an die Kundschaft weitergeben, aber er könne es auch nicht mehr finanzieren. Schon jetzt müsse er Kredite aufnehmen, um laufende Kosten begleichen zu können. Keiling sagte, er habe keine Angst hier auf dem Podest zu stehen, sondern er habe Angst, nicht mehr zahlen zu können und seine Angestellten entlassen zu müssen.

Nachdem der Applaus für diese mutigen Aussagen verklungen war, lud Bürgermeister Reinz die Menge zu einem Spaziergang durch die Altstadt ein, den die große Menschenmenge vom Bürgermeister und erstens Beigeordneten der Stadt angeführt umgehend antrat. Gegen 17.50 Uhr war diese erste Kundgebung des Bad Langensalzaer Bürgermeisters beendet. Es wird nicht die letzte gewesen sein, kündigte er heute schon an und erntete die Zustimmung der Leute, die alle wiederkommen wollen.

Auch Petrus stand heute eindeutig auf der Seite der Demonstranten. Pünktlich zu Veranstaltungsbeginn stellte er die Bewässerung der Kurstadt ein und ließ bis 18.20 Uhr die Schleusen geschlossen; obwohl die Wetterberichte der Welt im Vorfeld anderes behauptet hatten. Den allwöchentlichen Spaziergang am Montagabend, der seit Wochen wie in gut siebzig anderen Thüringer Städten abgehalten wird und um 19 Uhr an der Teestube startete, bedachte der Wettergott hingegen nicht mit so viel Zuneigung.
Olaf Schulze




Autor: osch

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